Auszug aus dem Buch „Von „Kürbitzsuppe“, Fliegeralarm, Tütenboom bis „Möwe, du fliegst in die Heimat“ – Kindheitserinnerungen im und nach dem 2. Weltkrieg“ von Arno Kiehl

Ich wohnte in meiner Kindheit mit meiner Mutter in der Lehderstraße 33, hier in Berlin-Weißensee. Das Haus entsprach einer typischen Berliner Mietskaserne, in der damals ein bunt gewürfeltes Milieu herrschte: Nazis, ein unbehelligter Kommunist, Büroangestellte, Invaliden, Rentner*innen. Vorwiegend aber Arbeiter*innen.

Meine Geschichte, die ich erzählen möchte, führt Sie zurück in die Zeit als der Krieg im Frühjahr 1945 sein Ende fand. Wie froh und erleichtert wir waren. Wir Kinder spielen wieder auf der Straße. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft, der Fabrik „Scherb&Schwer“ [„Die Glimmer“ im Volksmund, A.d.Verf.] in der Lehderstraße, waren Rotarmisten einer motorisierten Einheit einquartiert. Selbstverständlich mussten wir als Kinder versuchen, Kontakte zu knüpfen. Zumal wir unserer natürlichen Abenteuerspielplätze beraubt waren. Die sowjetischen Wachen und wir musterten uns gegenseitig und bald entwickelte sich ein Gespräch mit Händen und Füßen.

Weißensee - Geschichten erzählen - Arno Kiehl 1945 - © Arno Kiehl

Wiktor, der Rotarmist

Eines Tages kam ein junger Rotarmist auf mich zu und sprach mich in einem relativ guten Deutsch an: „Wie heißt Du?, wo wohnst Du?, hast Du eine Mutter und einen Vater?, wie alt bist Du?, hast Du Hunger?“ Die Frage nach dem Hunger war überflüssig. Hunger hatten wir bzw. ich immer. Er brachte Brot und Zucker. Das Brot brachen wir beide und tauchten bzw. stippten es in den Zucker, aßen es mit Genuss und tranken dazu Wasser. Es schmeckte. So begann eine recht sympathische Freundschaft zwischen uns. Er sagte, dass er Wiktor hieße und aus Odessa stamme. Er habe in der Mittelschule etwas Deutsch gelernt. Wenn Zeit wäre, könnten wir uns doch noch etwas weiter unterhalten, sagte er. Ich ging nach Hause, um meiner Mutter von diesem neuen Erlebnis zu berichten.

Spaziergang zwischen Trümmern und Frühlingspracht

Wiktor wartete am nächsten Tag auf mich und fragte, ob wir spazieren gehen wollten. Ich solle ihm etwas von Berlin zeigen. Was sollte ich ihm wohl zeigen? Trümmer, zerschossene Häuser oder noch stehen gebliebene, unfreundliche Mietskasernen? Da kam mir eine Idee. In der Roelckestraße waren Laubenpiepergärten, es war Frühling, Anfang Juni, warm und die Natur breitete ihre Pracht aus. So gingen wir also dorthin. Dem Wiktor gefiel diese Gegend wohl auch, er atmete tief, sog die Düfte auf und begann auf einmal ein russisches oder ukrainisches Lied zu singen – aber leise – . Er übersetzte mir den Text des Liedes. Natürlich handelte es vom Frühling und von einem wunderschönen Mädchen. Ich sang ihm das Lied „Alle Vögel sind schon da“ vor, nachdem er mich fragte, ob ich nicht auch ein Lied singen könnte.

Weißensee - Geschichten erzählen - Arno Kiehl - Lehderstraße 1945 - © Arno Kiehl

Wie zwei Brüder durch Weißensee

Einige Leute, die auf „Entdeckungsreisen“ waren, sahen uns verwundert an, wir aber achteten nicht auf sie. Wir gingen zurück und kamen zur Langhansstraße und standen vor dem Kino „Harmonie“ [heute Langhasstraße 23, Anm.d.V.). Wie lange war ich schon nicht mehr im Kino? Wir gingen hinein, weil viele alte und junge Menschen hineingingen, und sahen einen russischen Film, der die Zeit der Kämpfe zwischen den Weiß- und Rotgardisten im Bürgerkrieg bzw. nach der Oktoberrevolution darstellte. Ich verstand wenig davon. Nur unterschied ich nach der Version des Filmes schon Recht und Unrecht.

Es war ein schöner Tag, ein für mich unvergesslicher. Auf dem Rückweg nahm Wiktor meine Hand und wir kamen wie zwei Brüder zu Hause an. Mutter stand schon vor dem Haus und war wie gewohnt in Sorge, doch als sie uns so gemütlich plaudernd ankommen sah, war ihre Unruhe verflogen. Am darauffolgenden Tage sagte Wiktor ganz spontan und leise hinter der vorgehaltenen Hand: „Gittler kaputt, Stalin nich’ gut!“ Dass Hitler kaputt war, wusste ich schon, aber wer war „Herr“ Stalin? Den kannte ich bis dato noch nicht.

Kein Eis ohne Zucker

Trotz vieler Erschwernisse in dieser Nachkriegszeit regte sich der Wunsch nach normalem Leben. Es war an einem Sonnabend, als der Eiskonditor Trojani in der Langhansstraße [ungefähr Langhansstraße 19; Anm. d. V.] gegen Zuckerabgabe Speiseeis herstellte. Diese Neuigkeit verbreitete sich schnell unter uns Kindern. Doch woher Zucker nehmen? Ich ging zu Wiktor und erzählte ihm diese Neuigkeit. Er hatte in seinem Schrank ein Leinentuch und bewahrte dort seinen Zuckervorrat auf. Diese Menge nahm er und meldete sich bei seinem Vorgesetzten ab. Wir eilten gemeinsam zum Trojani. Für die Menge Zucker von ca. 300 g bekamen wir beide je eine wunderschöne Portion Eis. Wiktor musste wohl schon lange kein Eis mehr gegessen haben, denn er war ganz versunken beim Genuss und Ritual des Eisschleckens.

Sie wollen wissen, wie es für Arno und Wiktor weitergeht und was es mit der „Kürbitzsuppe“ und dem Tütenboom auf sich hat?

Die ganze Geschichte finden Sie in Arno Kiehls Buch – Von „Kürbitzsuppe“, Fliegeralarm, Tütenboom bis „Möwe, du fliegst in die Heimat“ – Kindheitserinnerungen im und nach dem 2. Weltkrieg.“

Weißensee - Geschichten erzählen - Arno Kiehl 02.2021 - © Gerrit Popkes