Ich bin am 29.01.1937 in Weißensee in der Albertinenstraße 18 in der 1. Etage geboren worden. 

Das Haus steht unmittelbar gegenüber dem Park und dem Weg, der direkt zum See führt. Bis zum See sind es 250m. 

An meine ersten Jahre habe ich natürlich keine Erinnerungen mehr, außer einigen Details aus den Erzählungen meiner Mutter oder von Kinderbildern. Mit Beginn des Krieges wurde mein Vater sofort Soldat und meine Mutter zog mit mir nach Niederschlesien auf den Bauernhof, aus dem ihre Mutter stammte. So entgingen wir den Bombenangriffen. 

Wir kamen im März 1945 nach Berlin zurück und wir wohnten erst bei meinen Großeltern in der Streustraße, da durch eine Mine die Wohnung in der Albertinenstraße sehr beschädigt war. Jetzt erlebte ich doch noch die Bombenangriffe, die in jenen Tagen besonders die Weißenseer Spitze trafen und in einer Nacht zu einem regelrechten Feuersturm, auch in der Streustraße, führten. Dies war für mich eine beängstigende Situation. Ich erlebte die Stunden im Keller und die Angst der Erwachsenen. Auch in der Streustraße fanden noch Kämpfe statt. Endlich im Mai war der Krieg zu Ende. 

„Im Zimmer gegenüber wohnte ein Trompeter, an den ich mich gut erinnere.“

In der Albertinenstraße Nr.1 oder 2 (das weiß ich nicht mehr genau) war die russische Kommandantur untergebracht und in unserer Wohnung eine russische Militärkapelle einquartiert. Meine Mutter erreichte im Sommer 1945 bei der Kommandantur, dass wir auch wieder in die Wohnung einziehen konnten, da sie befürchtete, sonst das Wohnrecht zu verlieren. Wir wohnten im ehemaligen Schlafzimmer meiner Eltern. Es hatte keine Tür, die war durch Minenexplosion herausgerissen. Meine Mutter nagelte eine Decke an den Türrahmen. Im Zimmer gegenüber wohnte ein Trompeter, an den ich mich gut erinnere. Denn er war sehr freundlich zu uns Kindern und wir bekamen von seiner Portion Brot und Borschtsch ab. An die anderen Musiker kann ich mich nicht mehr erinnern.

Im September 1945 begann in der Smetanastraße wieder die Schule mit der dritten Klasse. Es gab eine Schulspeisung. Wir hatten grauschwarze, verschließbare Blechbüchsen, in die wir eine Kelle von dem Essen bekamen. Häufig gab es eine rosafarbene, süße Suppe, die wir bald nicht mehr mochten. Auf dem Schulweg begegneten uns häufig Kriegsheimkehrer, denen wir die Suppe anboten und die sie zu unserer Verwunderung heißhungrig aufaßen.

Für uns Kinder fühlte sich das Leben bald als normal an.

Der Park und der See waren eine ideale Spiellandschaft und trotz der Zerstörungen ringsherum und trotz der Entbehrungen der Nachkriegszeit habe ich viele schöne Erinnerungen an eine wunderbare freie Kindheit. Als verheiratete Frau und Mutter eines Sohnes zog ich später auf die Gegenseite des Park’s, in die damalige Klement-Gottwald-Allee. Ich habe es oft bedauert, dass mein Sohn nicht mehr so unbekümmert im Park spielen konnte.


Ich denke, ganze Generationen von Weissenseer Kindern haben bei „Paule Wolf“ schwimmen gelernt.

Sobald es möglich war hat meine Mutter mich zum Schwimmunterricht in der Badeanstalt angemeldet und ich habe beim Bademeister „Paule Wolf“ schwimmen gelernt. Erst mit Brett und Korkring in der sogenannten Nichtschwimmerbahn, dann bald im tieferen Wasser. Die Außenbegrenzung der Badeanstalt waren Holzbalken. Ich glaube es waren 50 m und bin als stolzer Schwimmer an den Außenbalken entlang geschwommen. 10 -20 Mal und mehr. Jede weitere Bahn erhöhte den Stolz.

Ich weiß es von meinem Bruder, meinem Cousin, meiner Cousine und allen meinen Freundinnen.

Bald kaufte meine Mutter regelmäßig eine Jahreskarte für die Badeanstalt. Das bedeutete: Ich kam aus der Schule, Mappe in die Ecke, Badeanzug an, durch den Park gerannt, rein in den See und rüber geschwommen zur Badeanstalt und meist Stunden da verbracht. Man traf immer Freunde. Es gab ein 3 Meter Brett, einen 5 Meter Sprungturm. Wir haben Wettkämpfe veranstaltet, Wasserball gespielt, sind getaucht. Es war herrlich. Die große runde Uhr über dem Bademeisterraum trieb mich dann nach Hause, wenn auch widerwillig, denn um 19 Uhr kam meine Mutter von der Arbeit nach Hause und natürlich hatte sie mir einige Aufträge erteilt, die ich dann versuchte, schnell noch zu erledigen; was nicht immer gelang. Die schlimmste Strafe, die mich traf, war Leseverbot.

Die Straße war ein idealer Spielplatz.

Auch die Straße war ein idealer Spielplatz. Autos kamen äußerst selten. Eher kam der Pferdewagen vom Eisfritzen aus der Parkstraße im Sommer oder im Winter der Pferdewagen, von dem der Kutscher rief: „Brennholz für Kartoffelschalen!“ Und wenn man ihm Kartoffelschalen brachte, bekam man dafür ein Bündel dünner Holzstücke. Die waren gut zum Feuer anmachen. Oder es kam der Pferdewagen von Müller’s. Der Stall war oben an der Albertinenstraße. Heute steht da ein Neubau.

Auf dem Bürgersteig wurde Karos für Hopse mit Kreide gemalt, die hatten wir ja im Übermaß aus den Ruinen rings herum. Der Stuck war Gips und damit konnte man auf dem Asphalt und den Steinen herrlich malen. Die Jungen der Straße bekamen irgendwann kleine Autos geschenkt und wir haben die ganze Albertinenstraße entlang und um die Ecke bis in die Amalienstraße komplizierte Bahnen gemalt, auf denen dann Autorennen veranstaltet wurden.

Wir haben auch oft Treibeball gespielt. Eine Straßenmannschaft gegen eine andere. Ein Ball wurde vom besten Werfer gegen die andere Mannschaft geworfen und bis dahin, wo der Ball aufgefangen oder aufgenommen wurde, musste die Mannschaft zurück, dann durften sie werfen. Die übrigen Teilnehmer versuchten also den Ball so weit wie möglich vorn zu bekommen. Ich erinnere mich, dass die Albertinenstraße die anderen mal bis zur Rennbahnstraße getrieben hat.

Die Kinder des Kiezes kannten sich alle vom miteinander oder gegeneinander Spielen oder aus der Schule. Sollten wir abends nach Haus kommen, ging mein Onkel auf den Balkon und pfiff in einer ganz bestimmten Weise. Auch wenn wir mehrere Straßen weit weg waren, irgendjemand kam vorbei und sagte, bei euch hats gepfiffen. Ich oder meine Geschwister wussten: ,,Jetzt müssen wir nach Hause!“

Gegenüber von unserem Haus hatten wir ein Völkerballfeld markiert und sowie genügend Kinder für zwei Mannschaften da waren, wurde Völkerball gespielt.

Auf der Wiese spielten die größeren Jungen Fußball. Wenn nichtgenügend Spieler da waren, die meisten gingen mit 14 Jahren von der Schule ab und in eine Lehre und kamen ja dann später nach Hause als wir aus der Schule, dann durften auch wir Mädchen mal als Ersatzspieler mitspielen.

Stichwort Kreide: Die Albertinenstraße 17 war ein großes vierstöckiges, H-förmiges Haus. Der Mittelteil und die beiden vorderen Seitenflügel waren ausgebombt. Teile des Balkons, der an unseren Balkon grenzte, waren noch vorhanden. Mein Bruder kletterte als Erster hinüber und dann in der Ruine hinunter auf die Straße. Ich, als ältere Schwester, konnte das nicht auf mir sitzen lassen und bin auch hinübergeklettert. Das haben wir dann öfter gemacht, allerdings nur so lange bis meine Mutter, die glaubte wir wären beide im Zimmer, bei den Hausaufgaben uns nicht vorfand. Nach peinlichster Befragung, wie wir denn auf die Straße gekommen wären, uns bei Androhung drakonischer Strafen dieses Abenteuer verbot. Im Zuge der allgemeinen Enttrümmerung wurde die Ruine auch abgerissen. Es blieben nur die beiden hinteren Seitenflügel, die noch viele Jahre bewohnt waren.


Sie stellte das Klassenbuch auf ihren gewaltigen Busen und schrie: ,,Kriiiegst 5!“

Im September 1945 begann ich in der Smetanastraße mit der 3.Klasse wieder mit der Schule. Dort habe ich die 3. Und 4. Klasse absolviert und wechselte dann nach einer Aufnahmeprüfung auf das Gymnasium in der Woelckpromenade.

Das war eine sehr gemischte Zusammensetzung von Kindern. Die Altersstruktur reichte von 10 bis 15 Jahren. Einige Kinder hatten gar keine Eltern mehr. Bei den meisten gab es nur die Mutter und nur bei wenigen gab es beide Elternteile.

Ein 14- jähriger Junge lebte bei seinen Großeltern. Bald bekamen wir mit, dass er alles, was von den Eltern unterschrieben werden sollte, selbst unterschrieb, also die Unterschrift seiner Großeltern fälschte. Mir war schon klar, dass das Betrug war, aber bewundert habe ich ihn trotzdem.

Wir hatten alte Gymnasiallehrer, einige Lehrerinnen, später auch sogenannte Junglehrer. Einen haben wir furchtbar gemobbt. Der Biologielehrer ist in meiner Erinnerung sehr alt gewesen. Ich erinnere mich an ihn, weil wir Schüler im Winter mehrmals jeder eine Preßkohle mitbrachten und sie ihm schenkten.

Sehr präsent in meiner Erinnerung ist Frau Funke, Russisch-Lehrerin, eine große vollbusige Frau mit einem harten östlichen Akzent. Sie stellte das Klassenbuch auf ihren gewaltigen Busen und schrie: ,,Kriiiegst 5!“ Ja, Russisch, das war mein Problem. Hier gelang mir eine akzeptable Zensur nur mit Hilfe von Frl. Wiese, die in der Wohnung über uns wohnte und mir bis zur 8. Klasse Nachhilfe gab.

Der Direktor war Herr Gradwohl. Er war auch in der Woelkpromenade zur Schule gegangen. Kurz vor dem Abitur verriet er uns bei einem außerschulischen Fest, dass er im Archiv nach seinen Zeugnissen gesucht hätte, damit sie nicht den jetzigen Schülern in die Hände fielen. Anfang der 50-ziger Jahre haben wir den sogenannten „PFERDEMARKT“ enttrümmert.

Ursprünglich gab es in der Schönstraße eine Gaststätte „Zum Pferdemarkt“, daneben war ein großes freies Gelände, wo vor dem Krieg tatsächlich ein Pferdemarkt abgehalten wurde, auf dem, nach den Erzählungen meiner Familie, die Zigeuner ihre Pferde verkauften. Auf dieses Gelände hatte man die Trümmer der Umgebung gebracht. Es war ein riesiger Berg. Den begannen die Schüler in regelmäßigen Einsätzen abzubauen, zu enttrümmern, um dort einen Sportplatz für das Gymnasium einzurichten. Für den Leichtathletikunterricht mussten wir immer bis zur Buschallee, was sehr zeitaufwendig war.

Ich habe den fertigen Sportplatz nicht mehr erlebt. Denn dann hatte ich schon mein Abitur. Im Schulgebäude gab es eine Wohnung. Ich weiß nicht, ob da ursprünglich mal der Direktor gewohnt hat. Daraus wurde das sogenannte Schülerheim und bald gab es eine Schülerkapelle, die jeden Sonnabend zum Tanz aufspielte.

Nach dem Jahrgang 1947 gab es keine weitere Aufnahme von Schülern, da durch die Schulreform alle Schüler bis zur 8. Klasse auf der Grundschule blieben und dann wurde entschieden, ob sie noch 2 Jahre bleiben und mit der 10. Klasse abschließen oder auf die „Oberschule“ „bis zum Abitur gehen dürfen. Also kamen erst in der 9. Klasse wieder neue Schüler und füllten unsere inzwischen sehr reduzierte Klasse wieder auf.

1952 teilte sich die Schule in einen sprachlichen und in einen naturwissenschaftlichen Zweig auf. Ich entschied mich für den naturwissenschaftlichen Zweig. Einen weiteren Klassenwechsel gab es für mich dann in der 11. Klasse, da man sich als 2. Fremdsprache zwischen Latein oder Englisch entscheiden musste.


Aber, was nicht ist, kann ja noch werden.

Nach dem Abitur begann das Studium und der Kiez war nicht mehr so wichtig, obwohl ich hier wohnen blieb und auch nach dem Examen 1 Jahr im Krankenhaus Weißensee gearbeitet habe. Ich bin noch zwei Mal umgezogen, aber immer in Weißensee geblieben.

Im Gespräch bezeichne ich mich manchmal als Ur-Weißenseer.

Ich habe immer sehr gerne hier gelebt. Obwohl es mich manchmal etwas traurig stimmt, dass die nach der Wende sehr schnell von dem damaligen Bürgermeister Herrn Schilling und meinem Mann wieder in“ Berliner Allee“ umbenannte Straße so wenig attraktiv ist. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.